Niemand ist sicher, ob er lebendig nach Hause kommt, wenn er das Haus verlässt
Weihnachtsmusik, bunte Luftballons, Lichter, ein Christbaum: Schwester Annie und ihre Helfer haben den Gemeindesaal weihnachtlich geschmückt. Geschenke werden verteilt. Frohe Gesichter sind zu sehen. Kleine Kinder tollen umher. Es wird gelacht. Dennoch: Die vorweihnachtliche Idylle lässt die Menschen Aleppos allenfalls für einen kurzen Moment vergessen, in welchen Umständen sie leben.
Wenige Christen harren aus in der Stadt
Schwester Annie, die armenisch-katholische Ordensfrau von der Gemeinschaft Jesu und Mariens harrt seit Jahren im vom syrischen Krieg gezeichneten Aleppo aus. Sie berichtet:
„Vor zwei Tagen schlugen Raketen ganz in der Nähe von uns ein. Sechs Menschen wurden getötet. Ein paar Tage davor wurde ein Wohnhaus getroffen. Niemand wurde getötet, aber viele verletzt. Verletzt heisst oft, dass Menschen Arme und Beine verloren haben. Das ist Alltag bei uns. Niemand weiss, ob er lebendig nach Hause kommt, wenn er das Haus verlässt. Uns bleibt nur das Gottvertrauen.“
Regierung und Rebellen halten verschiedene Teile der Stadt. Immer wieder bekämpfen sie sich. Zusammen mit ihren Mitschwestern und Helfern dient sie den Christen Aleppos, indem sie sich um Kleidung, Heizmittel, Miethilfe und Medizin bemüht. Kirche in Not unterstützt sie dabei. Einst waren es Hunderttausende Christen, die in der wohlhabenden Handelsmetropole im Norden Syriens lebten. Heute sind es nur mehr wenige zehntausend, die zurückgeblieben sind in der in weiten Teilen zerstörten Stadt. „Das Leben bei uns ist so schwer. Strom und Wasser gibt es oft tagelang nicht. Besonders jetzt im Winter ist es bitterkalt. Kürzlich habe ich eine Familie besucht, die in ihrer von einer Raketen zerstörten Wohnung hauste. Mein Herz hat geweint. Es war ein so schreckliches Bild.“
Kleider werden in Syrien hergestellt
Schwester Annie versucht in diesem Jahr wie auch schon in den Jahren zuvor, den Menschen ein frohes Weihnachtsfest zu bereiten.
„Wir teilen Hosen, Pullover und Jacken an die Menschen aus. Sie können sich ja häufig nichts Neues anschaffen. Deshalb sind diese Dinge für sie gerade im Winter so wichtig.“
Seit September haben Schwester Annie und ihre Helfer das Projekt vorbereitet. 12‘000 Kleidungsstücke wurden so für 3‘000 Bedürftige angefertigt.
„Die Kleidung wurde von christlichen Schneidern hier in Aleppo hergestellt. Sie haben mir gesagt, dass sie so dankbar für die Aufträge sind. So haben sie Arbeit, ihre Familien zu ernähren.“
Neben Aleppo werden auch Christen in Hasake unterstützt, einer Stadt im Nordosten Syriens.
„Früher konnten wir die Hilfsgüter von Aleppo per Lastwagen nach Hasake transportieren. Weil Daesch (die Terrorgruppe „Islamischer Staat“) aber das Gebiet dazwischen erobert hat, geht das nicht mehr so leicht. Wir haben die Kleidung deshalb per Flugzeug geschickt. Sie ist gut angekommen, wie uns der Priester berichtet hat, mit dem wir dort zusammenarbeiten.“
In jedem Haus eine traurige Geschichte
Kirche in Not unterstützt das Weihnachtsprojekt Schwester Annies seit Jahren.
„Ohne das Hilfswerk könnte ich den Menschen nichts geben. Für mich ist es ein Wunder Gottes, dass es anders ist. Wir sind den Wohltätern so dankbar für ihre Grosszügigkeit. Erst jetzt haben wir eine Messe gefeiert, um für sie zu beten. Und auch die Menschen segnen die Wohltäter, wenn sie hören, von wem die Gaben stammen.“
Seit Freitag letzter Woche verteilt Schwester Annie jetzt zwischen zehn und sechzehn Uhr die Kleidung an die Bedürftigen.
„Wir wollen nicht, dass die Menschen sich wie Bettler vorkommen. Deswegen haben wir den Ausgaberaum so schön gestaltet. Wir versuchen auch, mit allen ins Gespräch zu kommen. Es soll nicht einfach eine Kleiderausgabe, sondern eine Begegnung von Mensch zu Mensch sein.“
Dabei, so Schwester Annie, klagen die Menschen ihr das Leid ihres schweren Alltags.
„Das ist das fünfte Weihnachtsfest, das Syriens Christen im Krieg feiern. Die Menschen haben keine Freude mehr im Herzen. Natürlich werden sie in die Kirche gehen. Aber die Freude, die wir alle einmal an Weihnachten spürten, ist weg. An ihre Stelle ist Traurigkeit getreten.“
Sie berichtet von einem alten Mann, der ihr bedrückt berichtete, dass er und seine Frau Weihnachten nur zu zweit seien.
„Früher feierten alle seine sechzehn Kinder und Enkel mit ihnen. Jetzt sind sie alle weg, geflohen. Geblieben sind nur die beiden Alten.“
So wie dem alten Paar gehe es vielen. Sie hätten Angehörige bei Angriffen verloren, ihre Söhne dienten in der Armee oder die Kinder seien geflohen. Schwester Annie:
„In jedem Haus gibt es eine traurige Geschichte zu erzählen. Aber die Menschen vertrauen auf Gott. Und sie freuen sich, dass ihre Mitchristen im Ausland sie nicht vergessen haben.“