Freiburger Rede von Papst Benedikt XVI. in Deutschland am 25. September 2011
Liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt! Sehr geehrte Damen und Herrn!
Ich freue mich über diese Begegnung mit Ihnen, die Sie sich in vielfältiger Weise für die Kirche und für das Gemeinwesen engagieren. Dies gibt mir eine willkommene Gelegenheit, Ihnen hier persönlich für Ihren Einsatz und Ihr Zeugnis als „kraftvolle Boten des Glaubens an die zu erhoffenden Dinge“ (Lumen Gentium, 35) ganz herzlich zu danken. In Ihrem Arbeitsumfeld treten Sie bereitwillig für Ihren Glauben und für die Kirche ein, was in der heutigen Zeit nicht immer leicht ist. Seit Jahrzehnten erleben wir einen Rückgang der religiösen Praxis, stellen wir eine zunehmende Distanzierung beträchtlicher Teile der Getauften vom kirchlichen Leben fest. Es kommt die Frage auf: Muß die Kirche sich nicht ändern?
Muß sie sich nicht in ihren Ämtern und Strukturen der Gegenwart anpassen, um die suchenden und zweifelnden Menschen von heute zu erreichen? Die selige Mutter Teresa [Anm. d. Red.: am 4. Sept. 2016 heiliggesprochen] wurde einmal gefragt, was sich ihrer Meinung nach als erstes in der Kirche ändern müsse. Ihre Antwort war: Sie und ich! An dieser kleinen Episode wird uns zweierlei deutlich. Einmal will die Ordensfrau dem Gesprächspartner sagen: Kirche sind nicht nur die anderen, nicht nur die Hierarchie, der Papst und die Bischöfe; Kirche sind wir alle, wir, die Getauften. Zum anderen geht sie tatsächlich davon aus: ja, es gibt Anlaß, sich zu ändern. Es ist Änderungsbedarf vorhanden. Jeder Christ und die Gemeinschaft der Gläubigen sind zur stetigen Änderung aufgerufen.
Wie soll diese Änderung nun konkret aussehen? Geht es hier um eine Erneuerung, wie sie etwa ein Hausbesitzer durch die Renovierung oder den neuen Anstrich seines Anwesens durchführt? Oder geht es hier um eine Korrektur, um wieder auf Kurs zu kommen sowie schneller und geradliniger einen Weg zurückzulegen? Sicher spielen diese und andere Aspekte eine Rolle. Was die Kirche betrifft, ist das grundlegende Motiv der Änderung aber die apostolische Sendung der Jünger und der Kirche selbst.
Dieser ihrer Sendung muß sich die Kirche nämlich immer neu vergewissern. Die drei synoptischen Evangelien lassen verschiedene Aspekte des Sendungsauftrags aufleuchten: Die Sendung gründet in der persönlichen Erfahrung: „Ihr seid meine Zeugen“ (Lk 24,48); sie kommt zum Ausdruck in Beziehungen: „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern“ (Mt 28,19); und sie gibt eine universale Botschaft weiter: „Verkündet das Evangelium allen Geschöpfen“ (Mk 16,15). Durch die Ansprüche und Sachzwänge der Welt wird aber immer wieder das Zeugnis verdunkelt, werden die Beziehungen entfremdet und wird die Botschaft relativiert. Wenn nun die Kirche, wie Papst Paul VI. sagt, „danach trachtet, sich selbst nach dem Typus, den Christus ihr vor Augen stellt, zu bilden, dann wird sie sich von der menschlichen Umgebung tief unterscheiden, in der sie doch lebt oder der sie sich nähert“ (Enzyklika Ecclesiam Suam, 60). Um ihre Sendung zu verwirklichen, wird sie immer wieder auf Distanz zu ihrer Umgebung gehen, sie hat sich gewissermaßen zu „entweltlichen“.
Die Sendung der Kirche kommt ja vom Geheimnis des Dreieinigen Gottes her, dem Geheimnis seiner schöpferischen Liebe. Die Liebe ist nicht nur irgendwie in Gott, er selbst ist vom Wesen her die Liebe. Und die göttliche Liebe will nicht für sich sein, sie will sich verströmen. Sie ist in der Menschwerdung und Hingabe des Sohnes Gottes in besonderer Weise auf die Menschen, auf uns zugekommen. Er ist aus dem Rahmen seines Gottseins herausgetreten, hat Fleisch angenommen und ist Mensch geworden; und zwar nicht nur, um die Welt in ihrer Weltlichkeit zu bestätigen und ihr Gefährte zu sein, der sie ganz so läßt, wie sie ist. Zum Christusgeschehen gehört das Unfaßbare, daß es – wie die Kirchenväter sagen – ein Sacrum commercium, einen Tausch zwischen Gott und den Menschen gibt, in dem beide – wenn auch auf ganz verschiedene Weise – Gebende und Nehmende, Schenkende und Empfangende sind. Der christliche Glaube weiß, daß Gott den Menschen in eine Freiheit gesetzt hat, in der er wirklich Partner sein und mit Gott in Tausch treten kann. Zugleich ist dem Menschen klar, daß dieser Tausch nur dank der Großmut Gottes möglich ist, der die Armut des Bettlers als Reichtum annimmt, um das göttliche Geschenk erträglich zu machen, dem der Mensch nichts Gleichwertiges zu bieten vermag.
Auch die Kirche verdankt sich ganz diesem ungleichen Tausch. Sie hat nichts Eigenständiges gegenüber dem, der sie gestiftet hat. Sie findet ihren Sinn ausschließlich darin, Werkzeug der Erlösung zu sein, die Welt mit dem Wort Gottes zu durchdringen und die Welt in die Einheit der Liebe mit Gott zu verwandeln. Die Kirche taucht ganz ein in die Hinwendung des Erlösers zu den Menschen. Sie selbst ist immer in Bewegung, sie muß sich fortwährend in den Dienst der Sendung stellen, die sie vom Herrn empfangen hat. Die Kirche muß sich immer wieder neu den Sorgen der Welt öffnen und sich ihnen ausliefern, um den heiligen Tausch, der mit der Menschwerdung begonnen hat, weiterzuführen und gegenwärtig zu machen.
In der geschichtlichen Ausformung der Kirche zeigt sich jedoch auch eine gegenläufige Tendenz, daß nämlich die Kirche sich in dieser Welt einrichtet, selbstgenügsam wird und sich den Maßstäben der Welt angleicht. Sie gibt nicht selten Organisation und Institutionalisierung größeres Gewicht als ihrer Berufung zur Offenheit.
Um ihrem eigentlichen Auftrag zu genügen, muß die Kirche immer wieder die Anstrengung unternehmen, sich von der Weltlichkeit der Welt lösen. Sie folgt damit den Worten Jesu nach: „Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin“ (Joh 17,16). Und gerade so gibt er sich der Welt. Die Geschichte kommt der Kirche in gewisser Weise durch die verschiedenen Epochen der Säkularisierung zur Hilfe, die zu ihrer Läuterung und inneren Reform wesentlich beigetragen haben.
Die Säkularisierungen – sei es die Enteignung von Kirchengütern, sei es die Streichung von Privilegien oder ähnliches – bedeuteten nämlich jedesmal eine tiefgreifende Entweltlichung der Kirche, die sich ja dabei gleichsam ihres weltlichen Reichtums entblößte und wieder ganz ihre weltliche Armut annahm. Damit teilte die Kirche das Schicksal des Stammes Levi, der nach dem Bericht des Alten Testamentes als einziger Stamm in Israel kein eigenes Erbland besaß, sondern allein Gott selbst, sein Wort und seine Zeichen als seinen Losanteil gezogen hatte. Mit ihm teilte sie in jenen geschichtlichen Momenten den Anspruch einer Armut, die sich zur Welt geöffnet hat, um sich von ihren materiellen Bindungen zu lösen, und so wurde auch ihr missionarisches Handeln wieder glaubhaft.
Die geschichtlichen Beispiele zeigen: Das missionarische Zeugnis der entweltlichten Kirche tritt klarer zutage. Die von ihrer materiellen und politischen Last befreite Kirche kann sich besser und auf wahrhaft christliche Weise der ganzen Welt zuwenden, wirklich weltoffen sein. Sie kann ihre Berufung zum Dienst der Anbetung Gottes und zum Dienst des Nächsten wieder unbefangener leben. Die missionarische Pflicht, die über der christlichen Anbetung liegt und die ihre Struktur bestimmen sollte, wird deutlicher sichtbar. Sie öffnet sich der Welt, nicht um die Menschen für eine Institution mit eigenen Machtansprüchen zu gewinnen, sondern um sie zu sich selbst zu führen, indem sie zu dem führt, von dem jeder Mensch mit Augustinus sagen kann: Er ist mir innerlicher als ich mir selbst (vgl. Conf. 3, 6, 11). Er, der unendlich über mir ist, ist doch so in mir, daß er meine wahre Innerlichkeit ist. Durch diese Art der Öffnung der Kirche zur Welt wird damit auch vorgezeichnet, in welcher Form sich die Weltoffenheit des einzelnen Christen wirksam und angemessen vollziehen kann.
Es geht hier nicht darum, eine neue Taktik zu finden, um der Kirche wieder Geltung zu verschaffen. Vielmehr gilt es, jede bloße Taktik abzulegen und nach der totalen Redlichkeit zu suchen, die nichts von der Wahrheit unseres Heute ausklammert oder verdrängt, sondern ganz im Heute den Glauben vollzieht, eben dadurch daß sie ihn ganz in der Nüchternheit des Heute lebt, ihn ganz zu sich selbst bringt, indem sie das von ihm abstreift, was nur scheinbar Glaube, in Wahrheit aber Konvention und Gewohnheiten sind.
Sagen wir es noch einmal anders: Der christliche Glaube ist für den Menschen allezeit, nicht erst in unserer Zeit, ein Skandal. Daß der ewige Gott sich um uns Menschen kümmern, uns kennen soll, daß der Unfaßbare zu einer bestimmten Zeit faßbar geworden sein soll, daß der Unsterbliche am Kreuz gelitten haben und gestorben sein soll, daß uns Sterblichen Auferweckung und Ewiges Leben verheißen ist – das zu glauben ist nun einmal für uns Menschen eine Zumutung.
Dieser Skandal, der unaufhebbar ist, wenn man nicht das Christentum selbst aufheben will, ist leider gerade in jüngster Zeit überdeckt worden von den anderen schmerzlichen Skandalen der Verkünder des Glaubens. Gefährlich wird es, wenn diese Skandale an die Stelle des primären Skandalon des Kreuzes treten und ihn dadurch unzugänglich machen, also den eigentlichen christlichen Anspruch hinter der Unbotmäßigkeit seiner Boten verdecken.
Um so mehr ist es wieder an der Zeit, die Weltlichkeit der Kirche beherzt abzulegen. Das heißt nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen. Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozial-karitativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens vermitteln. „Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst” (Enzyklika Deus caritas est, 25). Allerdings haben sich auch die karitativen Werke der Kirche immer neu dem Anspruch einer angemessenen Entweltlichung zu stellen, sollen ihr nicht angesichts der zunehmenden Entkirchlichung ihre Wurzeln vertrocknen. Nur die tiefe Beziehung zu Gott ermöglicht eine vollwertige Zuwendung zum Mitmenschen, so wie ohne Zuwendung zum Nächsten die Gottesbeziehung verkümmert.
Offensein für die Anliegen der Welt heißt demnach für die entweltlichte Kirche, die Herrschaft der Liebe Gottes nach dem Evangelium durch Wort und Tat hier und heute zu bezeugen, und dieser Auftrag weist zudem über die gegenwärtige Welt hinaus; denn das gegenwärtige Leben schließt die Verbundenheit mit dem Ewigen Leben ein. Leben wir als einzelne und als Gemeinschaft der Kirche die Einfachheit einer großen Liebe, die auf der Welt das Einfachste und Schwerste zugleich ist, weil es nicht mehr und nicht weniger verlangt, als sich selbst zu verschenken.
Liebe Freunde! Es bleibt mir, den Segen Gottes und die Kraft des Heiligen Geistes für uns alle zu erbitten, daß wir in unserem jeweiligen Wirkungsbereich immer wieder neu Gottes Liebe und sein Erbarmen erkennen und bezeugen können. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Weitere Hinweise und Quellen
- Radio Vatikan: Papst Benedikt XVI. in Deutschland 2011 – Freiburger Rede
- Radio Vatikan: Audiodokument 523543 vom 25/09/2011
-
Papstbesuch in Deutschland 2011 (Wikipedia)
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4 thoughts on “Der christliche Glaube ist für den Menschen allezeit, nicht erst in unserer Zeit, ein Skandal”
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