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Gotteserfahrung heute

Die Gotteserfahrung hat durchaus eine gesellschaftliche öffentliche Bedeutung

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Der Vortrag auf CD beim Grünewald Verlag

Der grosse Theologe und spirituelle Lehrer Karl Rahner hat wie kaum ein anderer in immer neuen Anläufen und neuen Perspektiven die Frage zur Sprache gebracht, wie wir Gott erfahren können. Und unermüdlich hat er betont, dass jeder Mensch grundsätzlich für eine solche Erfahrung offen ist, denn er lebt „mit den Sandkörnern des Strandes beschäftigt, am Rand des unendlichen Meeres des Geheimnisses … Die Gotteserfahrung darf [auch] nicht als blosse unverbindliche Stimmung, als unkontrollierbares Gefühl diskreditiert werden bloss deshalb, weil sie die Erfahrung des Unsagbaren ist. Und diese Erfahrung ist auch nicht bloss die Sache einer privaten Innerlichkeit, sondern hat durchaus eine gesellschaftliche öffentliche Bedeutung. »

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Vorbemerkungen zum Kontext des Titels

Sehr verehrte Damen und Herrn
Wenn von der Gotteserfahrung heute gesprochen werden soll, so setzt diese Themenangabe schon ein Doppeltes voraus:

  1. Dass es so etwas wie eine Gotteserfahrung gibt und
  2. Dass sie eine bestimmte Eigentümlichkeit hat, die ihr aus unserer gegenwärtigen Situation zukommt.

Das Wort Gotteserfahrung bedeutet dabei wieder ein Doppeltes: Einmal, dass das, was wir Gott nennen, eine Wirklichkeit ist und wir mit dieser Wirklichkeit zu tun haben, dass also der Atheismus, ein skeptischer Positivismus, der den Menschen schlechthin auf die naturwissenschaftlich zugänglichen Daten einengt, eine Theologie der absoluten Ferne Gottes, eine Theologie des Gott ist tot im vulgären Sinn des Wortes, falsch sind, den Menschen und seine Wirklichkeit verkennen.

Und zum andern will das Wort Gotteserfahrung sagen, dass es mehr und anderes Grundlegenderes gibt als die Erkenntnis Gottes durch die so genannten Gottesbeweise, deren Sinn und Möglichkeit nicht geleugnet werden soll, die aber eben möglich und existentiell sinnvoll nur sind als nachträgliche begriffliche Objektivierung dessen, was wir als das sie tragende und ihnen Ursprung gebende Gotteserfahrung nennen, Beweise also, die nicht aufgefasst werden dürfen als bloss intellektuelle Indoktrination eines Sachverhaltes, der wie etwa die Existenz einer physikalischen Subpartikel ausserhalb der ursprünglich menschlichen Urerfahrung liegt und so auch schlechterdings nicht anders gewusst werden kann, als eben durch eine solche Indoktrination von aussen.

Das ist es, was zunächst als Vorbemerkung zum ersten Wort des Titels dieses Vortrages gesagt werden sollte.

Zum zweiten Wort des Titels “heute” soll im Voraus nur gesagt werden, dass es uns einerseits nicht auf den Versuch ankommt, eine Gotteserfahrung zu behaupten oder nachzuweisen, die absolut heutig und neu ist, die es also früher schlechterdings nicht gegeben hätte. Wenn Gott existiert und wenn richtig verstanden wird, was mit dem Wort “Gott” gemeint ist, wenn der Mensch bei allem radikalen Wandel in seiner Geschichte eben doch immer Mensch ist, dann ist es von vornherein undenkbar, dass es heute eine Gotteserfahrung geben könnte, die es früher schlechterdings nicht gab.

Andererseits ist es ebenso selbstverständlich, dass die heutige Situation des Menschen in seinem totalen Selbstvollzug, ohne den es keine Gotteserfahrung gibt, auch diese Erfahrung sehr deutlich mitprägt, sogar mehr als die nachträgliche Reflexion auf sie, Gottesbeweise oder wie immer genannt. Aus beiden zusammen ergibt sich wohl das Recht von der Gotteserfahrung heute zu sprechen, ohne die Überlegung auf die blosse Heutigkeit dieser Erfahrung allein einzuengen.

Die Schwere und Not unserer Überlegungen kommt daher, dass wir von einer Erfahrung sprechen wollen, die in jedem Menschen gegeben ist, reflex oder unreflex, verdrängt oder angenommen, richtig oder falsch, interpretiert oder wie immer, dass einerseits diese Erfahrung, um die es hier geht, mehr, ursprünglicher und unausweichlicher ist als ein rationales Kalkül, das in einem Kausalschluss vom Ei auf das Huhn, vom Donner auf den Blitz, d.h. von der Welt auf einen Urheber schliesst, mehr ist als ein solches Kalkül, das auch unterlassen werden kann und so das Erschliessbare gänzlich unerkannt lassen kann, dass aber anderseits diese Erfahrung nicht wie die vom Vorhandensein eines sinnlichen, physikalischen Erfahrungsdatums oder einer vitalen Empfindung sich so aufdrängt und unwiderstehlich ist, dass der Übergang von der Erfahrung zu ihrer expliziten reflexen und interpretierenden Erkenntnis und Aussage unwiderstehlich wäre.

Es gibt auch andere ursprüngliche Erfahrungen, wie sich gleich noch zeigen wird, bei denen der Übergang von der Erfahrung selbst, obwohl diese Erfahrung unausweichlich gegeben ist, zu ihrer begrifflich reflexen Erkenntnis schwierig ist, durch das erfahrende Subjekt selbst verhindert werden kann, bei denen die Interpretation, die in diesem Übergang geschieht, deutlicher oder weniger deutlich glücken, ja auch missglücken kann. Solche Überlegungen wie diese jetzt, wie diese, die wir jetzt machen, heute Abend vortragen, können darum nur Hinweise sein, Anrufe, die den Hörenden einladen, den Versuch zu machen, bei sich selbst, in sich selbst diese, vielleicht ganz anonyme, Erfahrung zu entdecken, vorzulassen, anzunehmen, sie nicht zu verdrängen und sich zu fragen, ob er verstehen könne, dass dieser Anruf seiner Erfahrung diese Erfahrung auch einigermassen richtig interpretiere. Wo man beim Hören auf das von aussen hier zugesprochene Wort nicht bereit ist, in sich selbst hineinzuhören, das schweigende Wort seiner eigenen Existenz zu vernehmen, wo man nicht gewillt ist, von einem selbstherrlich Verfügbaren und darum klar genannten Wissen weg, sich fortführen zu lassen in das Geheimnis hinein, das uns ratlos macht, das verfügt und über das nicht verfügt wird, da sind solche Anrufe einer solchen Erfahrung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Aber auch die begriffliche Reflexion auf diese Erfahrung, Gottesbeweise genannt, fallen ebenso ins Leere. Aber genug der Vorbemerkungen.

Unausweichliche Existenz und das Wesen solcher Erfahrungen

Ich muss zunächst genauer etwas zu sagen versuchen über die unausweichliche Existenz und das Wesen solcher Erfahrungen, von denen wir schon zu reden begonnen haben. Es gibt solche Erfahrungen, wie schon gesagt, über die sinnlichen Erfahrungen von Dingen der Aussenwelt und über vitale Empfindungen von Lust, Unlust usw. hinaus und zwar auch schon ganz abgesehen von der Gotteserfahrung, wenn diese auch ihre einmalige Eigenart hat, die es nicht erlaubt, sie in genau dem gleichen Sinne mit diesen anderen Erfahrungen, die wir hier meinen, unter einen und denselben Begriff zu bringen. Was Freude, Angst, Treue, Liebe, Vertrauen und vieles andere mehr, was logisches Denken und verantwortliche Entscheidung ist, das hat der Mensch schon erfahren, bevor er darauf reflektiert und zu sagen versucht, was das ist, was er schon immer erfährt und erlebt. Ja die reflektierende Aussage kann falsch sein oder unzulänglich. Es kann jemand echte personale Liebe radikaler Treue und Verantwortung vollziehen und erfahren, der dabei sehr Falsches darüber sagt, wenn er nämlich gefragt wird, was dabei eigentlich geschieht. Und es kann einer durch Indoktrination von aussen belehrt, vielleicht sehr Gescheites und Richtiges darüber sagen, der eigentlich davon noch nichts oder kaum etwas wirklich erfahren hat. Erfahrung als solche und die begrifflich objektivierende Reflexion auf solche Erfahrung sind zwar nie absolut getrennt, weil Erfahrung immer wenigstens eine gewisse ansatzhafte Reflexion bei sich hat, aber diese beiden Grössen Erfahrung und objektivierende Reflexion auf sie sind auch nie identisch. Die Reflexion holt die ursprüngliche Erfahrung nie ganz ein. Ja es gibt Erfahrungen, die auch nochmals als solche gemacht werden, wenn sie durch die Reflexion falsch interpretiert, geleugnet oder verdrängt werden. Wer zum Beispiel sagt, es gebe keine Logik, keine Wahrheit, die grundsätzlich vom Irrtum unterschieden ist, was man so nenne, sei nur das Produkt bestimmter Gehirnmechanismen oder gesellschaftlicher Zwänge allein, die auch ebenso berechtigt anders sein könnten, der sagt einen Satz, dessen Gegenteil er ja für falsch hält und der vollzieht und erfährt also nochmals so, ob er’s zugibt oder nicht, den Sinn und den Anspruch von Wahrheit und absoluter Logik, die er in seinem reflektierenden Satz leugnet. Natürlich kann eine solche Erfahrung wie etwa Liebe, Treue auch selbst und nicht nur die Reflexion darauf, in der individuellen Lebensgeschichte wachsen, radikaler werden, entschlossener von der Freiheit angenommen werden oder sie kann verkümmern und ihre ihr eigene Tendenz, sich auf in Reflexion deutlicher zu objektivieren, abnehmen oder fast ganz aufhören.

Erfahrungen eignen sich in einem gewissen Zeitstil

Weiter. Auch solche Erfahrungen ereignen sich in einem gewissen Zeitstil. So sehr solche ursprünglichen Erfahrungen ihrer begrifflichen Objektivation und Deutungen vorausliegen und grundsätzlich von dieser Reflexion unabhängig sind, so wenig darf man diese objektivierende Reflexion für überflüssig halten und sagen, wenn es eine solche Erfahrung selber unausweichlich gibt, brauche man auch nicht sich reflex um sie zu kümmern, sondern könne sie auch auf sich beruhen lassen. Eine solche Meinung ist ebenso falsch, wie wenn jemand sagen würde, das medizinisch theoretische Wissen um das Wesen eines Herzinfarkts sei überflüssig, wenn man seine, vielleicht sehr unbeachtete, Erfahrung davon auch ohne dieses Wissen gemacht hat oder machen könne. Eine erfahrene Liebe kann trotz ihrer Ursprünglichkeit und trotz der Unersetzlichkeit dieser Erfahrung als solcher durch das reflexe Wissen um ihr wahres Wesen und dessen Implikationen selber radikaler, reiner und mit grösserer Freiheit angenommen werden.

Erfahrung kann sich nun auch auf Gott beziehen

13:33: Eine solche Erfahrung kann sich nun auch auf Gott beziehen. Und diese Gotteserfahrung ist unausweichlich. Sie ist davon unabhängig, ob man das, worauf sie bezogen ist, Gott nennt oder nicht; unabhängig davon, ob sie in eine theoretische Aussage von Gott hinein begrifflich thematisiert wird oder nicht; unabhängig davon, ob der Mensch sich in Freiheit mit ihr identifiziert oder sie ablehnt, verdrängt, auf sich beruhen lässt. Diese Gotteserfahrung, die wir hier meinen, ist nicht eine nachträgliche emotionale Reaktion auf eine theoretische von aussen her indoktrinierte Lehre von der Existenz und dem Wesen Gottes, sondern geht einer solchen Lehre voraus, trägt diese Lehre und macht diese Lehre erst wirklich verständlich. Diese Gotteserfahrung ist nicht das Privileg einzelner Mystiker, sondern in jedem Menschen gegeben, wenn auch die Kraft und die Deutlichkeit der Reflexion bei den verschiedenen Menschen sehr verschieden ist. Es ist natürlich eine Erfahrung von einmaliger Art, deren philosophische und theologische Interpretation sehr schwierig ist, eine Interpretation, die hier natürlich jetzt nicht geleistet werden kann. Sonst müsste nämlich die eigentümliche, einmalige Gegebenheitsweise des Gegenstandes dieser Erfahrung, also dessen, was wir Gott nennen, genauer bedacht werden. Man müsste dann einerseits sagen, dass das, was wir Gott als Gegenstand dieser Erfahrung nennen, nicht gegeben ist in der Weise, die nach dem Modell der Anschauung eines sich durch sich selbst unmittelbar darbietenden Gegenstandes, so wie es der so genannte Ontologismus sich denkt, gedacht werden dürfte, sondern Gott als das in sich selbst verborgene, asymptotisch angezielte Woraufhin der Erfahrung einer unbegrenzten Dynamik des erkennenden Geistes und der Freiheit gegeben ist. Anderseits müsste man bei einer solchen philosophischen Reflexion und Interpretation dieser ursprünglichen Gotteserfahrung betonen, dass diese sich selbst erfahrende Dynamik des geistigen Subjekts sich nicht als autonome Macht dieses Subjektes, sondern als eröffnet und getragen durch ihr Woraufhin erfährt 16:55: und dass diese Dynamik sich als dadurch begnadigt erfährt, dass sie auch die Kraft der Hoffnung in sich birgt dort in letzter Nähe und Unmittelbarkeit anzukommen, wohin sie unterwegs ist, so dass dann ihr Woraufhin nicht nur die ihr ewig asymptotisch fernbleibende Macht der Bewegung, sondern ihr wirklich erreichbares Ziel ist. Es müsste in einer solchen philosophischen Reflexion auf diese ursprüngliche Erfahrung gezeigt werden, dass auch in der Dimension des Bewusstseins selbst Gott gegeben ist in einer Weise, die sich der Alternative entzieht, dass Gott entweder nur als Gedachter fast ideologisch oder im Sinn des Ontologismus als unmittelbar Angeschauter in sich selbst gegeben sein könnte. Aber, wie gesagt, auf solche und ähnliche Fragen der zutreffenden metaphysischen und theologischen Interpretation dieser Erfahrung einzugehen, ist hier nun im Augenblick nicht möglich. Und es hat auch ferner keinen Sinn, diese Erfahrung, auf die wir hinzielen, in einer theologisch voreiligen Weise vor die Frage zu stellen, ob diese Erfahrung natürlich oder gnadenhaft sei. Eine solche Unterscheidung ist die der nachträglichen Reflexion und braucht in der Erfahrung selbst nicht thematisch zu sein. Der Sache nach selbst müsste man in der konkreten Situation unserer menschlichen Existenz diese Erfahrung natürlich und gnadenhaft zugleich nennen, wobei aber diese Gnadenhaftigkeit kein Privileg Einzelner bedeutet, sondern diese Gnade dieser Erfahrung allen gegeben, allen angeboten ist und umgekehrt die Frage der existentiellen Annahme, des existentiellen Vorlassens dieser Erfahrung in Freiheit durchaus offen bleibt. Diese Gotteserfahrung darf nicht so gedacht werden, als ob sie eine partikuläre Erfahrung neben andern ist, so wie z. B. ein Erlebnis eines physiologischen Schmerzes neben der Erfahrung eines Sehvorgangs liegt. Die Gotteserfahrung ist vielmehr, wenn wir von besondern eigentlich mystischen Erfahrungen vielleicht absehen, ich sage die Gotteserfahrung selbst ist vielmehr die letzte Tiefe und Radikalität jeder geistig personalen Erfahrung der Liebe, der Treue, der Hoffnung und so fort, und ist somit gerade die ursprüngliche eine Ganzheit der Erfahrung, in der die geistige Person sich selber hat und sich selber überantwortet ist.

Wieso macht man diese Erfahrung? – eigentlicher Kern des Themas

20:24 Aber wieso macht man diese Erfahrung? Wo ist die Anleitung, wenn zwar nicht dazu diese Erfahrung erstmals zu machen, so doch dazu, sie als immer schon gegebene zu erkennen? Damit kommen wir erst zum eigentlichen Kern unseres Themas. Nochmals: Man kann auf diese Erfahrung nur hinweisen, den andern aufmerksam zu machen suchen, dass er in sich selbst das entdecke, was man nur findet, weil und wenn man es schon besitzt. Man kann es aber auch haben und in sich entdecken, auch wenn man es noch nie die Gotteserfahrung genannt hat. Der beschreibende Hinweis auf diese Erfahrung steht dabei immer vor einem Dilemma: Entweder versucht dieser anrufende Hinweis möglichst konkret Geist und Herz eines bestimmten Angerufenen in dessen eigentümlich bestimmter Situation zu treffen. Dann klingt ein solcher Anruf leicht subjektiv, poetisch, scheinbar nur Stimmung von unkontrollierbarer Wagheitaussagen und ein solcher Anruf setzt sich dann dem Einwand aus, man könne ihn im realistischen Sinne des nüchternen Alltags doch nicht ernst nehmen. Oder man formuliert diesen hinweisenden Anruf doch in möglichst philosophischer Exaktheit und strenger Begrifflichkeit. Dann wird die Rede abstrakt, schwer verständlich, begegnet dem Vorwurf subtiles Begriffsgespinst zu sein, das man am Ende ermüdet auf sich beruhen lässt. Vielleicht ist es am besten, sich um dieses Dilemma gar nicht zu kümmern, zu sagen zu versuchen, was gemeint ist, ohne auf die Sprache selbst nochmals zu reflektieren. Der Anrufende, also in diesem Falle ich selbst, wird sich damit trösten müssen, dass sein Wort unvermeidlich auf Verständnislosigkeit stossen wird, wo ihm nicht echte Bereitschaft entgegenkommt. Er wird sich sagen, dass, was er anruft, nämlich diese anonyme Gotteserfahrung, auch dort angenommen oder abgelehnt gegeben ist, wo die Rede über sie nur auf Unverständnis stösst. Der Anrufende wird nicht vergessen, dass es nicht verwunderlich ist, wenn seine Rede, die eine gewisse Erfahrung des Lebens im Hörenden voraussetzen muss, von dem vielleicht abgelehnt oder bei dem vielleicht ungehört bleibt, der noch ganz unbekümmert jugendlich die äussere Welt erobern muss, bevor er die Frage nach dem enttäuschten und scheiternden Eroberer selbst stellen kann.

Es waltet in jedem Leben ein Unsagbares, das Geheimnis. Dieses ist nicht der Rest an noch nicht Durchschautem oder noch nicht Getanem und noch nicht Verwirklichtem, sondern ist dessen Voraussetzung und tragender Grund. Denn eben der Vorgriff über jedes konkrete Denkbare und Verwirklichbare hinaus, die grundsätzliche Unbegrenzbarkeit jeder Bewegung der Erkenntnis und Freiheit durch ein einzelnes bestimmtes, endgültigen Haltepunkt Bedeutendes ist die Bedingung der Möglichkeit und der Eigenart menschlichen Daseinsvollzugs. Wir sind, wir denken und handeln in Freiheit nur, indem wir das Bestimmte, Umfassbare mit dem wir immer zu tun haben, auch schon immer überholt haben in einer Bewegung, die keine Grenze kennt. Und wenn wir uns als die Begrenzten begreifen, die wir gewiss in radikaler und vielfältiger Weise sind, haben wir diese Grenze auch schon immer überschritten – freilich wie ins Leere hinein, aber dennoch überschritten, haben wir uns als die dauernd sich selbst Überschreitenden erfahren – auf das Unumfassbare hin, das eben als grundsätzlich solches unendlich genannt werden muss, das das Geheimnis schlechthin ist, weil es als Bedingung allen Begreifens, Unterscheidens, Einordnens nicht nochmals in der Weise erfahren werden kann, für die es selbst die Bedingung ist.

Das bleibende Geheimnis

26:17 Dieses, auf das diese unendliche Bewegung unseres Geistes in Erkennen und Freiheit immer hingeht, ist gegeben als das bleibende Geheimnis. Diese ursprüngliche durch nichts anderes begründete, wenn auch durch die Erfassung eines konkreten Gegenstandes vermittelte Erfahrung kann eigentlich durch nichts anderes als durch sich selber erklärt werden. Diese Erfahrung ist die Erfahrung des Geheimnisses, das bleibt, immer schon gegeben und gerade so das Unbegreifliche und allein Selbstverständliche zumal ist. Die Dynamik dieser unbegrenzten Bewegung und an ihr ihr Woraufhin werden natürlich in einem erfahren und darin auch unterschieden. Aber weil das Woraufhin dieser Bewegung per definitionem nicht ein Gegenstand derart ist und sein kann, wie er sonst in der Erkenntnis und Freiheit angezielt wird, um ihn als vorläufige Etappe dieser Bewegung untertan zu machen, um ihn in ein Koordinatensystem an einer bestimmten Stelle einzuordnen, weil dieses Woraufhin in und an der unendlichen Bewegung des Geistes erfahren wird, wenn auch gerade als das diese Bewegung selbst Tragende und Eröffnende, darum ist es letztlich eine zweitrangige Frage, ob man sagt: der unendliche Raum, der sich in dieser Bewegung ohne Grenze und Ende öffnet, sei das Leere, das, um sein zu können, auf eine unendliche Fülle verweise, weil das Nichts, wenn man dieses Wort ernst nimmt, sich nicht als Raum der Möglichkeit dieser Bewegung ausspannen könne oder ob man sagt, dieses Woraufhin dieser unendlichen Bewegung selbst sei als die unendliche Fülle angezielt. Und so ist es darum auch eine zweitrangige Frage, ob man von einer Gotteserfahrung oder von der Erfahrung der Verwiesenheit auf Gott reden will. Hier sind eben objektive und subjektive Seite der Erfahrung zwar immer noch unterschieden – soll der Mensch sich nicht zu Gott machen – sind aber in einer einmaligen und ursprünglichen Weise voneinander untrennbar.

29:25: Wie schon warnend im Voraus gesagt wurde, ist das eben Gesagte sehr abstrakt und man darf nie vergessen, dass eine solche Aussage die gemeinte Erfahrung nicht bewirkt, sondern nachträglich über die schon bestehende redet. Man macht sie, diese Erfahrung, selbst somit nicht in der Abstraktheit der nachträglichen Rede über sie. Diese Erfahrung selber ereignet sich sehr konkret, wenn auch als das Unsagbare der konkreten Alltagserfahrung. Gibt es sie anonym, unausdrücklich auch in jedem geistigen Vollzug, so wird sie doch deutlicher und in etwa thematisch in jenen Ereignissen, in denen der Mensch, der gewöhnlich verloren an die einzelnen Dinge und Aufgaben des Alltags lebt, gewissermassen auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich nicht mehr übersehen kann über dem, mit dem er sonst gewöhnlich umgeht. So etwa, wenn der Mensch plötzlich einsam wird, wenn alles Einzelne wie in eine schweigende Ferne hinein sich zurückzieht und darin auflöst, wenn alles fraglich wird, wie wir zu sagen pflegen, wenn die Stille dröhnt, eindringlicher als der übliche Alltagslärm; so etwa, wenn man plötzlich unerbittlich seiner Freiheit und Verantwortung überantwortet erfährt, hier als einer und Ganzes, die das ganze Leben umgreift; wenn diese Verantwortung keine Ausflucht mehr zulässt, keine Entschuldigung, wenn kein Beifall mehr unterstützt, keine Anerkennung und kein Dank mehr erhofft werden kann, wo man eben vor der schweigenden, unendlichen von uns nicht manipulierten Verantwortung steht, die ist und uns nicht untertan ist, die das Innerste und das Unterschiedenste von uns zugleich ist. So wenn man dann erfährt, wie diese Verantwortung sich gleichsam schweigend ausbreitet durch das ganze Dasein, alles durchdringt, alles eint, selber unbegreiflich spürt, wie diese Verantwortung ursprünglich nicht das ist, was ist und gilt, weil wir sie frei leisten, sondern das inappellabel unsere Freiheit anfordernde, das als Gericht dann noch da ist, wenn wir diese Verantwortung leugnen oder ihr davonlaufen.

Die Erfahrung personaler Liebe

32:58: So etwa auch, wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe und Begegnung macht, plötzlich, selig erschreckt, merkt, wie man in Liebe absolut bedingungslos angenommen wird, obwohl man selber für sich allein in seiner Endlichkeit und Brüchigkeit dieser Bedingungslosigkeit der Liebe, die einem entgegenkommt, von der anderen Seite gar keinen Grund und keine zureichende Begründung liefern kann oder wenn man selbst ebenso liebt, in unbegreiflicher Kühnheit die gewusste Fragwürdigkeit des andern überspringend, spürt, wie diese Liebe in ihrer Absolutheit einem Grund vertraut, der ihr selbst nicht mehr untertan ist, ihr in seiner Unbegreiflichkeit zuinnerst und von ihr unterschieden zugleich ist.

Der Tod schweigend einen anblickt

34:13: Oder so etwa, wenn der Tod schweigend einen anblickt, der alles in seine Nichtigkeit fallen lässt und so gerade, so er willig angenommen wird, so und nur so, nicht tötet, sondern selbst verwandelt, befreit in die Freiheit, die sich auf nichts mehr beruft und stützt, aber so unbedingt wird.

In tausend Abwandlungen das eine Urerlebnis des Menschen andeuten

34:45: So könnte und müsste man fortfahren, um in tausend Abwandlungen das eine Urerlebnis des Menschen anzudeuten, in dem die Offenheit seines Daseins in das unbegreifliche Geheimnis hinein aufgeht, in dem er merkt, dass er nur dann der Gefangene seiner erschreckenden Endlichkeit ist, die es gibt und die grausam quält, wenn er an der unendlichen Unbegreiflichkeit vorbeisieht, die ihn überall umgibt oder wenn er sich vor dieser fürchtet, weil sie so schweigend und unverfügbar alles durchwaltet. Man müsste so von der Freude, der Treue, der letzten Angst, der Sehnsucht, die alles Einzelne überfordert, von der Erschütterung über die Unerbittlichkeit der Wahrheit sprechen, die noch als geleugnete und belächelte nochmals da ist, sprechen von dem Frieden der Gelassenheit, die nichts Einzelnes absolut verteidigt und so alles gewinnt, sprechen von der Erfahrung des Schönen, die lautere Verheissung dessen ist, was noch künftig ist, sprechen von der Erfahrung der radikalen ausweglosen Schuld, der plötzlich dennoch unbegreiflich vergeben wird, sprechen von der Erfahrung der heilig strengen Gültigkeit dessen, das scheinbar einfach vergangen ist, aber in Wahrheit geworden ist, sprechen von der Erfahrung der unendlichen Offenheit der Zukunft, die unverbrauchte Verheissung ist.

So könnte man noch lange fortfahren und man müsste noch viel konkreter werden, konkret nicht in einem sich Verlieren in die Einzelheiten der äusseren Welt, sondern in jener einfachen Dichte letzter und doch überall im Alltag gegebener Erfahrung, in dem der Mensch, immer mit den Sandkörnern des Strandes beschäftigt, am Rande des unendlichen Meeres des Geheimnisses wohnt. Freilich müsste man nun deutlicher zeigen einmal, dass alle diese verschieden scheinenden Absolutheitserfahrungen untereinander eine ursprüngliche letzte Einheit bedeuten und zum andern zeigen, dass diese Erfahrung wirklich das oder besser den meinen, den wir Gott nennen. Diese zweite Frage müsste allerdings in doppelter gegenläufiger Richtung gestellt werden. Es dürfte nicht nur gesagt werden, was so erfahren wird, meint Gott, wobei dann vorausgesetzt würde, es sei von vornherein klar, was mit Gott gemeint sei, es müsste vielmehr auch umgekehrt gesagt werden, was mit Gott gemeint ist. Das gerade ist nur zu verstehen von dieser Erfahrung her, weil nämlich sonst, wenn man ohne diesen Rückgriff auf diese Erfahrung von Gott zu reden anfängt, die Gefahr droht, sich unter dem Wort Gott etwas Sinnloses zu denken, dieses Sinnlose dann zu verwerfen und zu meinen, man müsse ein Atheist sein.

Aber weil noch vieles zu sagen ist und dabei doch der Sache nach einiges zu diesen beiden Fragen gesagt wird, sei hier vorausgesetzt, diese beiden Fragen seien in dem eben angedeuteten Sinne beantwortet.

Gotteserfahrung ist nicht keine unverbindliche Stimmung

Bevor wir uns nun fragen, welches die heutige Eigenart dieser Gotteserfahrung sei, seien noch zwei Bemerkungen gemacht. Diese Gotteserfahrung darf nicht als blosse unverbindliche Stimmung, als unkontrollierbares Gefühl diskreditiert werden bloss deshalb, weil sie die Erfahrung des Unsagbaren ist. Und diese Erfahrung ist auch nicht bloss die Sache einer privaten Innerlichkeit, sondern hat durchaus eine gesellschaftliche öffentliche Bedeutung. Diese Erfahrung ist also keine blosse Stimmung, keine unverbindliche Sache des Gefühls oder gar der Poesie – solche Erfahrung ist natürlich verschieden von der begrifflichen Erkenntnis des Einzelnen innerhalb des Erkenntnisraumes. Diese Erfahrung betrifft ja das Ganze der Erkenntnis und der Freiheit als solches Ganze und kann deswegen gar nicht dieselbe Erfahrung sein wie man sie macht hinsichtlich eines bestimmten Einzelnen innerhalb dieses Erfahrungsraumes, innerhalb unseres Koordinatensystems der Freiheit und der Erkenntnis. Aber darum ist diese eigentümliche Erfahrung, die vom Ganzen unseres Erkenntnisraumes als Ganzen ausgeht, noch lange nicht ein unverbindliches Gefühl, denn diese Erfahrung ist unaufhebbar, auch wenn sie noch so unreflektiert und anonym ist, weil sie in jedem auftaucht und gerade dem rationalsten geistigen Vollzug als letzten Grund und Horizont mitgegeben ist, weil jeder solche Vollzug lebt von dem alles übersteigenden Vorgriff auf das Ganze, das eines und das das namenlose Geheimnis ist. Man kann diese Erfahrung verdrängen, aber sie bleibt und sie bricht in den entscheidenden Stunden auch wieder unwiderstehlich ins Bewusstsein vor. Man kann auch nicht sagen, man solle über sie, weil man nicht klar über sie reden könne, schweigen, denn, was ist das „klar“? Und hat man nicht auch schon darüber geredet, wenn man diese Rede verbietet, eigens verbieten muss?

Und wenn die rationalistischen Philosophen und Positivisten, die nichts darüber sagen wollen, werden dann die Heiligen, die Dichter und andere Offenbarer des ganzen vollen Daseins sich deswegen die Rede über dieses umfassende, unumfassbare Geheimnis verbieten lassen? Wird das Wort „Gott“, das nun einmal doch da ist und sich selbst noch im Kampf der Atheisten gegen Gott setzt, wird, sage ich, dieses Wort nicht immer aufs Neue die Frage aufwecken, was damit gemeint sei? Und noch wenn dieses Wort einmal vergessen wäre, dann würde uns in den entscheidenden Stunden des Lebens das namenlose Geheimnis unseres Daseins schweigend, richtend und zur letzten Freiheit begnadigend immer noch umgeben, uns anblicken und wir würden den alten Namen für es neu erfinden müssen.

Man sage weiter auch nicht, dass diese Erfahrung für die gesellschaftliche Öffentlichkeit belanglos sei. Religion, echte Religion, die von dieser Erfahrung immer lebt, ist eine gesellschaftliche Realität selbst dann noch, wenn der Atheist meinen sollte, es wäre besser, es gäbe diese Realität der Religion in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit nicht und diese Gotteserfahrung wäre in ihrer gesellschaftlichen Relevanz noch gar nicht beseitigt, wenn die begriffliche Reflexion und die gesellschaftliche Institutionalisierung dieser Gotteserfahrung, Religionen genannt, ganz verschwunden wären. Denn auch dann noch würde der Mensch aus seiner Transzendentalität in das unverfügbare Geheimnis hinein leben, hätte die Gotteserfahrung, ihre, wenn auch noch so unreflektierte, Wirksamkeit in Treue, Verantwortung, Liebe, Hoffnung über alles Partikuläre so Rechtfertigende hinaus, eine Wirksamkeit, die, wenn auch scheinbar ganz unpolitisch, privat und unmanipulierbar auch das Gesellschaftliche trägt.

Heute

45:42: Wir müssen uns endlich der Frage zuwenden, welches der Zeitindex dieser Gotteserfahrung heute sei, ob diese Gotteserfahrung, die wir bisher fast überzeitlich beschrieben haben, nicht doch von der Situation des Menschen von heute her, eine ganz bestimmte Eigentümlichkeit erhalte. Vier kurze Hinweise müssen zur Beantwortung dieser Frage, soweit eine solche hier in Kürze überhaupt möglich ist, genügen.

1. Eigentümlichkeit: Der Mensch von früher ordnete doch Gott als ein Stück seiner Welt ein

46:23: Zunächst ist folgendes hinsichtlich des transzendentalen Charakters der Gotteserfahrung zu bedenken: Der Mensch von früher ordnete doch Gott als ein Stück seiner Welt ein, auch wenn er dabei sagte, dass dieses Stück das Höchste und Vollkommenste sei, von dem alles andere abhänge, auch wenn die Philosophen und Theologen in ihren theoretischen Aussagen diesen Menschen von früher darüber belehrten, dass es eigentlich dem Wesen Gottes und der Gotteserfahrung widerspreche, so von Gott zu denken und ihn gewissermassen als ein einzelnes Stück in das Ganze des Erfahrungsraums einzuordnen. Gott wurde früher doch als Teil der Welt erlebt in der Welt und nicht als ihr Grund und Abgrund, der von vornherein nicht mir ihr selbst verrechnet werden darf. Gott war praktisch für den Menschen von früher eine partikuläre Wirklichkeit in der Welt, so sehr gesagt wurde, dass er alles verursacht habe, war eine Teilursache, die mit den übrigen Wirklichkeiten in einem dauernden gegenseitigen Wechselverhältnis stehend gedacht wurde. So war Gott verständlich und die Lehre von ihm leicht von jedermann praktikabel. Der liebe Gott, der als Weltregent für Moral sorgt und auch wieder gnädig sein kann. Was man im Allerletzten meinte, stimmte zwar schon, aber das wie man es meinte stimmte nicht, das merken erst wir heute deutlich, denn jetzt wird es allmählich auch dem Durchschnittsmenschen, der früher auch noch im hohen Denker bei seiner religiösen Praxis steckte, ich sage, jetzt wird es auch dem Durschnittsmenschen allmählich deutlich, dass es diesen Gott nicht gibt, dass er in der Welt nicht zu finden ist als Stück dieser Welt, dass sein Himmel nicht über den Wolken ist, dass Wunder nicht zur Behebung von Störungen der Weltmaschinerie dienen, sondern, dass der wahre Gott absolut mit der Welt inkommensurabel, nicht als Einzelposten in die Kalkulation unseres Lebens eingesetzt werden kann. Und solche und ähnliche Erfahrungen machen wir Menschen von heute alle in einer fortschreitenden immer intensiver werdenden Deutlichkeit und dann ist es kein Wunder, wenn der Tod einer primitiven Gottesvorstellung als Tod des wahren Gottes selbst gedeutet wird oder wenn Gott als unsagbar fern, so sehr fern empfunden wird, dass wir überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben können. Es ist aber in Wahrheit so: die rationale Durchschaubarkeit der Welt, die diese Welt entgöttlicht, ist durchaus legitim, vorausgesetzt nur, dass diese Entgöttlichung der Welt langsam auch immer mehr erfahren wird als getragen von jener Transzendierung von Welt- und Endlichem Subjekt, in welcher Transzendierung die wahre Gotteserfahrung geschieht. Die heutige Gotteserfahrung ist viel deutlicher und radikaler als die frühere eine Transzendenzerfahrung, die die Welt entgöttlicht und so gerade Gott Gott sein lassen kann.

2. Eigentümlichkeit der Gotteserfahrung heute – die Eigenart der Vermittlung

51:16: Eine zweite weitere Eigentümlichkeit der heutigen Gotteserfahrung besteht wohl in der Eigenart ihrer heutigen Vermittlung. Jede Gotteserfahrung ist insofern vermittelt, als die Transzendierung der Welt und des Subjekts, in welcher Transzenzerfahrung Gott gewusst und erfahren wird, immer von etwas Bestimmtem ausgeht und gleichsam abspringt. Und diese Vermittlung kann, zumindest, was ihre gesellschaftlich und geistespolitisch auffallende Ausprägung angeht, wechseln. Zunächst einmal hat sich gegenüber früher, diese Vermittlung verschoben von der Welt zur Existenz. Früher war die äussere Welt in ihrer Ordnung und Harmonie das, woran sich die Transzendenzerfahrung des Menschen entzündete. Heute ist es vielmehr die Existenz des Menschen mit ihren Abgründen selbst. Und man darf, vielleicht ein wenig prophezeiend, vermuten, dass die zeittypische Existenz, die diese Vermittlung allmählich leisten wird, nicht die Existenz des weisen, kontemplativen Heiligen ist oder sein wird, sondern die Existenz des unpathetisch und schweigend seine einsame Verantwortung tragenden Menschen, der für die andern selbstlos da ist. Das wird wohl in Zukunft noch mehr die Eigenart der Vermittlung der heutigen Gotteserfahrung bedeuten.

3. Eigentümlichkeit: Ist ein persönliches Verhältnis zu Gott möglich?

Ein Drittes kennzeichnet weiterhin die heutige Eigenart der Gotteserfahrung in ihrer Gefährdetheit und in ihrer neuen Aufgabe. Bei einer Öffentlichkeit der Religion, die gesellschaftlich, wenn auch in den verschiedensten Gestalten, unbestritten herrschte, in einer Situation, in der alle Völker ihre Götter hatten, war es für den, der diese Gotteserfahrung überhaupt vorliess und annahm, kein sonderliches weiteres Problem mehr, dass man sich an diesen Gott, du sagend, anrufend und anbetend wenden könne. Heute ist dieses vielleicht das wirklich echte Problem des Menschen, auch wenn er deutlich diese Gotteserfahrung macht, denn er wird sich dann immer noch fragen können: Kann man diesem Gott, der sowohl radikal anders ist als wir, als auch nochmals der Grund unseres eigenen Tuns, also auch noch einmal der Grund des Versuchs, ihn anzureden und auf ihn hin frei zu reagieren wirklich anzureden, ist, ein persönliches Verhältnis gewinnen? Man sollte zwar nicht sagen, wie es sehr oft geschieht, wir seien zu unbedeutend als dass er, dieses namenlose Geheimnis, sich für uns interessieren könnte. Denn ein solches Bedenken macht ihn ja gerade zu einem Stück der Welt, das zu einem kleineren Stück davon ein kleineres Verhältnis hat als zu einem grossen. Während Gott in Wahrheit ein unmittelbarstes Verhältnis zu uns, so wie wir sind, haben kann und haben muss, wenn er Gott ist. Aber damit ist das Problem doch noch nicht gelöst. Zu ihm kann hier nur weniges gesagt werden. Zunächst einmal soll man ruhig diese Frage sehr ernst nehmen, denn nur dann bestimmt diese bange Frage auch unsere Haltung auf Gott selbst hin positiv mit und wenn wir diese Frage: „Kann man denn diesen Gott anreden?“ wirklich stellt, dann macht diese Frage unsere Haltung zu ihm zu dem, was man in der traditionellen Terminologie Anbetung, totale Übergabe nennt, in welcher der Mensch verstummt, in welcher sein Wort an Gott nur die Voraussetzung, das Anheben seines Schweigens wird, in der er sein Antlitz vor der Majestät des unsagbaren Geheimnisses verhüllt, des Schweigens, in dem er weiss, dass, wider allen Schein von heute, der Mensch mit Gott nicht rechnen kann. Weiter! Es ist nur gut, wenn der Mensch dieses Anreden Gottes wirklich als unerhörtes Wagnis, ja in der Konkretheit dieses Wagnisses als reine Gnade empfindet, in der Gott von ihm selbst her den Menschen zu einem solchen Wagnis ermächtigt, einem Wagnis, das alles andere als selbstverständlich ist, wozu aber zu ermächtigen der Mensch die Möglichkeit Gott nicht absprechen darf, will er nicht doch noch einmal Gott nach dem Mass des Menschen denken. Und schliesslich: Es schadet nichts, wenn wir den Mut zu solcher Anrede nur im Blick auf Jesus Christus finden, der es im Tod noch fertig brachte, das Geheimnis, das sich ihm ihn tötend entzog und ihn in die unbegreiflichste Gottverlassenheit stürzte, Vater zu nennen, in dessen Hände er sich ergab.

4. Eigentümlichkeit: Wo bleibt das Christliche?

59:04: Ein Viertes scheint zum Zeitindex unserer Gotteserfahrung heute zu gehören. Es sieht zunächst so aus, als ob an dieser Gotteserfahrung kaum etwas spezifisch Christliches sei – gerade dort nicht, wo diese Gotteserfahrung im Widerstand gegen alle Trends der Zeit und ohne eine erhebliche Stütze durch die bloss gesellschaftliche Tradition des Christentums im reflektierenden Bewusstsein lebendig bleibt oder wieder lebendig wird. Wir selber haben ja heute Abend lang über diese Gotteserfahrung geredet und dabei scheinbar fast ohne Bezug auf das Christentum und seine geschichtlich ergangene Botschaft gesprochen. Und es gibt heute genug religiöse Menschen, auch Christen, die ihre eigene ursprüngliche Gotteserfahrung zu einem reflektierten Bewusstsein kommen lassen mit Hilfe der Zeugnisse darüber, die sie als echt und erweckend überall in der Geschichte der Menschheit, der Völker und der Religionen zu vernehmen überzeugt sind. Auch zu diesem Problem kann hier nur Weniges angedeutet werden. Zunächst: Auf der einen Seite ist die letzte Tiefe dieser Gotteserfahrung, die wir anzurufen versuchten, gerade die Erfahrung einer unsagbaren Nähe Gottes, der bei aller anzubetenden Unbegreiflichkeit bleibt, sich selbst in Unmittelbarkeit vergöttlichend und vergebend dem Menschen mitteilt und nicht nur der ewig fernbleibende Richtpunkt aller menschlichen Bewegung des Geistes in Erkenntnis und Freiheit ist. Diese radikale Tiefe der Gotteserfahrung auf absolute Selbstmitteilung und Nähe hin, wird aber gerade im Christentum deutlich ergriffen, ausgesagt, bekannt als Gnade und als sich in Jesus Christus siegreich durchsetzend und geschichtlich bezeugend verstanden. Die angerufene Gotteserfahrung ist also auch in unserer heutigen Zeitgestalt nicht notwendig so achristlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Im Gegenteil! Unter den faktischen Religionen als geschichtliche und gesellschaftlich verfasste verstanden und natürlich auf ihre eigene Wesensinterpretation und nicht auf ihre faktischen Depravationen hin interpretiert, ist es gerade das Christentum, das diese Gotteserfahrung am radikalsten und reinsten realisiert und in Jesus Christus dafür die geschichtliche, überzeugende Erscheinung hat. Auf der anderen Seite und umgekehrt: wenn heute deutlicher wird und zwar innerhalb des lehrhaften und institutionellen Christentums selbst, dass diese Gotteserfahrung allerdings als radikale und als richtig interpretierte wirklich der Kern des Christentums und auch die lebendig bleibende Quelle dessen ist, was wir reflektiert Offenbarung nennen, dann kommt gerade das Christentum nur radikaler und deutlicher zu seinem eigenen richtigen Selbstverständnis, denn es ist ja in seinem wahren Wesen nicht die partikulare Religion neben andern, sondern die geschichtlich reine Objektivation der Gotteserfahrung, die gerade wegen des allgemeinen Heilswillens Gottes durch seine Selbstmitteilung als Gnade überall gegeben ist und als solche überall gegebene gerade vom Christentum bekannt wird. Wenn also das Christentum heute deutlicher als früher merkt und deutlicher existentiell realisiert, dass es das geschichtliche reine und in Christus endgültig siegreich gewordene Zusichkommen der Selbstmitteilung Gottes an die Menschheit ist, die überall und in aller Gotteserfahrung geschieht und zwar auch dort noch, wo diese Gotteserfahrung ohne Schuld schlecht interpretiert wird, dann bedeutet diese Erkenntnis ein Stück besserer Selbstverwirklichung des Selbstverständnisses des Christentums selbst. Es ist also Aufgabe gerade des Christentums selbst immer neu auf diese ursprüngliche Gotteserfahrung hinzuweisen, den Menschen anzuleiten, sie in sich zu entdecken, sie anzunehmen und natürlich auch sich zu ihr zu bekennen in ihrer worthaften und gesellschaftlichen Objektivation, die freilich wo sie rein und auf Jesus Christus als ihrer Besiegelung bezogen ist, eben das ist, was wir Christentum nennen.

Schlusswort

1:05:34: Lassen Sie mich ein letztes Wort sagen: Heute in der katholischen Kirche überhaupt und auch in Deutschland wird unendlich viel über Kirchenreform, über Demokratie in der Kirche, über Bischöfe oder Päpste, über ihr richtiges oder falsches Verhältnis gestritten und geredet, wird viel gesagt über die Weltaufgabe, die das Christentum hat, über seine Verantwortung für die profane Welt usw. Alle diese Dinge sind wichtig, sie können nicht übergangen werden, aber ich meine all das würde doch zu einem entarteten Betrieb bei allem Reformwillen, zum entarteten Betrieb einer religiösen Institutionalität entarten, die gräulich ist auch dann, wenn sie grossen Lärm und Geschrei macht und stolz ist auf ihren Reformwillen, wenn dieser ganze Betrieb nicht letztlich immer wieder erkennen würde, dass er dazu da ist, den Menschen anzuleiten, diese ursprüngliche Gotteserfahrung in sich zu entdecken, vorzulassen, für sich selbst in einem gewissen Sinn wenigstens zu objektivieren, diese ursprüngliche Gotteserfahrung anzunehmen, in Freiheit sie wachsen zu lassen, sich immer radikaler zu ihr zu bekennen, in dieser Gotteserfahrung frei zu werden von sich, von den versklavenden Mächten der Welt, des Lebens, der innerweltlichen Utopien, des Todes usw. Religion, reden darüber, institutionalisiertes Christentum, so wichtig alle diese Dinge sind, sind nur dann nicht noch einmal ein neuer Götze, den der Mensch sich entrichtet, wenn all das immer wieder den Menschen hinführt zu einer letzten ursprünglichen, unausweichlichen, immer gegebenen, wenn auch noch so anonymen Erfahrung, dass wir immer und überall schon umgeben, getragen, angenommen, befreit und erlöst sind von jenem unsagbaren Geheimnis, das wir Gott nennen. Und ich meine in all den heutigen kirchlichen, theologischen, dogmatischen Kämpfen und Auseinandersetzungen, die heute die Kirche durchtoben, sollten wir das nicht vergessen. Wir sind im Grunde genommen eben doch nur Christen, wenn wir uns vertrauend, hoffend, arglos, ohne letzte Angst, ohne letztes Misstrauen hineinfallen lassen in das Geheimnis unserer Existenz, das grösser ist wie wir, das uns umgibt, das uns sich immer zusagt als Gnade, als Heil, als ewiges Leben. Man darf, wie ich schon gesagt habe, diese Gotteserfahrung nicht verbannen in eine blosse religiöse Innerlichkeit des Menschen. Ich habe schon gesagt, sie hat auch wirklich eine letzte, sehr radikale, politische, gesellschaftliche, öffentliche Revelanz und Bedeutung, aber eben nur dann, wenn sie echt und lebendig gemacht wird, wenn wir alle, wenn ich das einmal so sagen darf, die Mystiker dieser Gotteserfahrung sind, die wir alle haben und die wir meistens übersehen, an der wir uns, weil wir sie nicht manipulieren können nur zu gern vorbeischleichen zu den Dingen des Alltags, die übersichtlicher, manipulierbarer, verständlicher sind.

Aber wir leben dieses klare Dasein des Alltags letztlich eben doch umfasst und von jener Tiefe des Geheimnisses her, das wir Gott nennen. Wir leben aus einer wirklichen, echten, in jedem von uns gegebenen, wenn vielleicht auch verdrängten anonymen nicht beachteten Gotteserfahrung heraus und die Geschichte unseres Lebens sollte nicht in einer theoretischen Spekulation und nicht bloss in einem Gefühl, sondern in der Tat des Lebens die Geschichte des Wachstums und der Annahme und der immer tieferen Verwurzelung dieser Gotteserfahrung sein.Vorbemerkungen und Bedeutung des Titels.

Weitere Hinweise und Quellen