Predigt von Papst Franziskus bei der Inbesitznahme der Lateranbasilika
Die Predigt des Heiligen Vaters, Papst Franziskus, wurde am Zweiten Sonntag der Osterzeit (Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit) in der Lateranbasilika gehalten und wurde von Radio Vatikan dokumentiert (siehe Quellenangabe): Voll Freude feiere ich zum ersten Mal die Eucharistie in dieser Lateranbasilika, der Kathedrale des Bischofs von Rom. Ich begrüße euch alle ganz herzlich: den verehrten Kardinalvikar, die Weihbischöfe, die Priester der Diözese, die Diakone, die Ordensleute und alle gläubigen Laien. Ich grüße auch den Bürgermeister von Rom und seine Frau, sowie alle Autoritäten. Gehen wir miteinander im Licht des auferstandenen Herrn.
1. Wir feiern heute den Zweiten Sonntag der Osterzeit, der auch „Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit“ genannt wird. Wie schön ist diese Wirklichkeit des Glaubens für unser Leben: die Barmherzigkeit Gottes! Eine so große, so tiefe Liebe hat Gott zu uns, eine Liebe, die niemals nachlässt, immer unsere Hand ergreift und uns stützt, uns wieder aufrichtet, uns lenkt.
2. Im heutigen Evangelium macht der Apostel Thomas eigens die Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes, die ein konkretes Gesicht hat, das Gesicht Jesu, des auferstandenen Jesus. Thomas traut nicht dem, was die anderen Apostel ihm sagen: „Wir haben den Herrn gesehen“; es genügt ihm nicht die Verheißung Jesu, der angekündigt hatte: Am dritten Tag werde ich auferstehen. Er will sehen, will seine Finger in die Male der Nägel und seine Hand in Jesu Seite legen. Und was ist die Reaktion Jesu? Geduld: Jesus lässt den eigensinnigen Thomas in seiner Ungläubigkeit nicht fallen; er gibt ihm eine Woche Zeit, verschließt nicht die Tür, sondern wartet. Und Thomas erkennt seine Armseligkeit, seine Kleingläubigkeit. „Mein Herr und mein Gott“: Mit diesem einfachen, doch glaubensvollen Ruf antwortet er auf die Geduld Jesu. Er lässt sich von der göttlichen Barmherzigkeit umfangen, sieht sie vor sich in den Wunden der Hände und der Füße, in der geöffneten Seite, und gewinnt das Vertrauen zurück: Er ist ein neuer Mensch, nicht mehr ungläubig, sondern gläubig.
Und erinnern wir uns auch an Petrus: Dreimal verleugnet er Jesus gerade in dem Moment, als er ihm ganz besonders nahe hätte sein sollen. Und als ihm dies zutiefst bewusst wird, begegnet ihm der Blick Jesu, der ihm geduldig und ohne Worte zu verstehen gibt: „Petrus, hab’ keine Angst wegen deiner Schwachheit, vertraue auf mich!“ Und Petrus versteht, spürt den liebevollen Blick Jesu und weint. Wie schön ist dieser Blick Jesu – wie viel Zärtlichkeit! Brüder und Schwestern, verlieren wir niemals das Vertrauen in die geduldige Barmherzigkeit Gottes! Denken wir an die beiden Emmausjünger: Mit traurigem Gesicht gehen sie so vor sich hin, ohne Hoffnung. Aber Jesus verlässt sie nicht: Er geht mit ihnen, und nicht nur das! Geduldig erklärt er ihnen, was in der Schrift über ihn geschrieben steht, und bleibt, um mit ihnen Mahl zu halten. Das ist der Stil Gottes: Er ist nicht ungeduldig wie wir, die wir oft alles und sofort wollen, auch von den Menschen. Gott hat Geduld mit uns, denn er liebt uns, und wer liebt, der versteht, hofft, schenkt Vertrauen, gibt nicht auf, bricht die Brücken nicht ab, weiß zu verzeihen. Erinnern wir uns daran in unserem Leben als Christen: Gott wartet immer auf uns, auch wenn wir uns entfernt haben! Er ist niemals fern, und wenn wir zu ihm zurückkehren, ist er bereit, uns in seine Arme zu schließen.
Mir macht es immer einen tiefen Eindruck, wenn ich das Gleichnis vom barmherzigen Vater lese; es beeindruckt mich, weil es mir stets große Hoffnung schenkt. Denkt an jenen jüngeren Sohn, der im Haus des Vaters war, der geliebt wurde. Und doch will er sein Erbteil, geht weg, gibt alles aus, sinkt auf das niedrigste Niveau herab, am weitesten entfernt vom Vater. Und als er völlig heruntergekommen ist, verspürt er Heimweh nach der Geborgenheit des Vaterhauses, und er kehrt zurück. Und der Vater? Hatte er seinen Sohn vergessen? Nein, niemals. Er ist dort, sieht ihn von weitem, erwartete ihn jeden Tag, jeden Moment: Immer hatte er ihn als Sohn in seinem Herzen, obwohl dieser ihn verlassen hatte, obwohl er das ganze Erbe, das heißt seine Freiheit vergeudet hatte. Mit Geduld und Liebe, mit Hoffnung und Barmherzigkeit hatte der Vater nicht einen Moment aufgehört, an ihn zu denken, und sobald er ihn von ferne erspäht, läuft er ihm entgegen und umarmt ihn zärtlich – mit der Zärtlichkeit Gottes – ohne ein einziges Wort des Vorwurfs: Er ist zurückgekehrt! Das ist die Freude des Vaters. In dieser Umarmung des Sohnes ist seine ganze Freude: er ist zurückgekehrt! Gott wartet immer auf uns, er wird nicht müde. Jesus führt uns diese barmherzige Geduld Gottes vor Augen, damit wir Vertrauen und Hoffnung zurückgewinnen, immer! Ein großer deutscher Theologe, Romano Guardini, sagte, dass die Geduld Gottes auf unsere Schwäche antwortet und dies die Rechtfertigung unserer Zuversicht, unserer Hoffnung ist (vgl. Glaubenserkenntnis, Würzburg 1949, S. 28).Das ist wie ein Dialog zwischen unserer Schwäche und der Geduld Gottes, es ist ein Dialog, der uns, wenn wir ihn eingehen, Hoffnung gibt.
3. Ich möchte noch ein anderes Element unterstreichen: Die Geduld Gottes muss in uns den Mut wecken, zu ihm zurückzukehren, ganz gleich welchen Fehler, welche Sünde es in unserem Leben gibt. Jesus lädt Thomas ein, den Finger in die Wunden seiner Hände und Füße und die Hand in seine geöffnete Seite zu legen. Auch wir können in die Wunden Jesu hineinfassen, ihn wirklich berühren; und das geschieht jedes Mal, wenn wir gläubig die Sakramente empfangen. Der heilige Bernhard sagt in einer schönen Predigt: „Durch … die Wunden [Jesu] kann ich Honig aus dem Felsen saugen und Öl aus den Felsspalten (vgl. Deuteronomium 32,13), das heißt kosten und erfahren, wie gut der Herr ist“ (Homilie über das Hohelied 61,4). Gerade in den Wunden Jesu sind wir sicher, dort zeigt sich die unermessliche Liebe seines Herzens. Thomas hatte es begriffen. Der heilige Bernhard fragt sich: Worauf kann ich mich verlassen? Auf meine Verdienste? Doch „mein Verdienst ist die Barmherzigkeit Gottes. Sicher bin ich nicht arm an Verdiensten, solange er reich an Barmherzigkeit ist. Und so habe ich, wenn die Barmherzigkeiten des Herrn zahlreich sind, einen Überfluss an Verdiensten“ (ebd. 5). Das ist wichtig: der Mut, mich der Barmherzigkeit Jesu anzuvertrauen, auf seine Geduld zu zählen, immer Zuflucht in den Wunden seiner Liebe zu nehmen. Der heilige Bernhard geht so weit zu sagen: „Doch was soll ich sagen, wenn ich Gewissensbisse habe wegen meiner vielen Sünden? »Wo die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden« (Römer 5,20)“ (ebd.). Vielleicht könnte jemand denken: Meine Sünde ist so groß, meine Entfernung von Gott ist wie die des jüngeren Sohnes aus dem Gleichnis, mein Unglaube ist wie der des Thomas; ich habe nicht den Mut umzukehren, zu meinen, Gott könne mich aufnehmen und warte ausgerechnet auf mich. Doch Gott wartet gerade auf dich, er verlangt von dir nur den Mut, zu ihm zu gehen. Wie oft habe ich in meinem seelsorglichen Dienst die Worte gehört: „Pater, ich habe viele Sünden“; und meine Einladung war immer: „Keine Angst, geh zu ihm, er erwartet dich, er wird alles tun.“ Wie viele weltliche Angebote hören wir in unserer Umgebung, aber lassen wir uns vom Angebot Gottes ergreifen – es ist eine herzliche Liebkosung. Für Gott sind wir keine Nummern, wir sind ihm wichtig, ja, wir sind das Wichtigste, das er hat; auch wenn wir Sünder sind, sind wir das, was ihm am meisten am Herzen liegt.
Adam empfindet nach der Sünde Scham, er fühlt sich nackt, spürt das Gewicht dessen, was er getan hat. Und doch gibt Gott nicht auf: Wenn in jenem Moment mit der Sünde die Verbannung aus Gottes Nähe beginnt, gibt es bereits die Verheißung der Rückkehr, die Möglichkeit, zu ihm zurückzukehren. Gott fragt sofort: „Adam, wo bist du?“, er sucht ihn. Jesus hat sich für uns entäußert, hat die Schande Adams, die Nacktheit seiner Sünde auf sich geladen, um unsere Sünde reinzuwaschen: Durch seine Wunden sind wir geheilt. Erinnert euch an die Worte des heiligen Paulus: Welcher Sache soll ich mich rühmen, wenn nicht meiner Schwachheit, meiner Armseligkeit? Gerade indem ich meine Sünde empfinde, indem ich meine Sünde anschaue, kann ich die Barmherzigkeit Gottes, seine Liebe sehen und ihr begegnen und zu ihm gehen, um die Vergebung zu empfangen.
In meinem persönlichen Leben habe ich viele Male das barmherzige Antlitz Gottes, seine Geduld gesehen. Bei vielen Menschen habe ich auch den Mut beobachtet, in die Wunden Jesu hineinzufassen und ihm zu sagen: Herr, da bin ich, nimm meine Armut an, verbirg meine Sünde in deinen Wunden, wasche sie rein mit deinem Blut. Und ich habe immer gesehen, dass Gott es getan hat, dass er aufgenommen, getröstet, gewaschen, geliebt hat.
Liebe Brüder und Schwestern, lassen wir uns von der Barmherzigkeit Gottes einhüllen; vertrauen wir auf seine Geduld, die uns immer Zeit lässt; haben wir den Mut, in sein Haus zurückzukehren, in den Wunden seiner Liebe zu wohnen und uns von ihm lieben zu lassen, seiner Barmherzigkeit in den Sakramenten zu begegnen. Wir werden seine so schöne Zärtlichkeit spüren, wir werden seine Umarmung spüren und auch selber fähiger sein zu Barmherzigkeit, Geduld, Vergebung und Liebe.
Weitere Hinweise und Quellen
- Radio Vatikan (Volltext): Christine Seuss, Radio Vatikan, Artikel 680683
- Libreria Editrice Vaticana: Predigt von Papst Franziskus anlässlich der feierlichen Inbesitznahme der Kathedra des Bischofs von Rom vom 7. April 2013