Der wahre Jünger Christi dient nicht sich selber oder dem „Publikum“

Predigt von Papst Benedikt XVI. beim Aschermittwochsgottesdienst in Rom

Em. Papst Benedikt XVI.
Benedikt XVI. Anno domini 2005

Verehrte Brüder, liebe Brüder und Schwestern, heute, am Aschermittwoch, beginnen wir einen neuen Weg der österlichen Bußzeit: ein Weg, der vierzig Tage währt und uns zur Freude des Pascha des Herrn führt, zum Sieg des Lebens über den Tod. Nach der uralten römischen Tradition der „Stationes“ in der Fastenzeit, haben wir uns zur Feier der Eucharistie versammelt. Diese Tradition sieht vor, dass die erste „Statio“ in der Basilika Santa Sabina auf dem Aventin stattfindet. Die Umstände haben es nahe gelegt, uns in der vatikanischen Basilika zu versammeln. Heute Abend sind wir zahlreich versammelt um das Grab des Apostels Petrus, auch um seine Fürsprache zu erbitten für den Weg der Kirche in diesem besonderen Augenblick und um unsern Glauben an den höchsten Hirten zu erneuern: an Christus, den Herrn. Da ich nun bald das Petrusamt niederlege, ist dies für mich eine gute Gelegenheit allen zu danken, besonders den Gläubigen des Bistums Rom und um ein besonderes Gedenken im Gebet zu bitten. Die Lesungen, die heute vorgetragen worden sind, bieten uns Hinweise, die in dieser Fastenzeit in Haltungen und konkreten Handlungen zu verwirklichen wir mit der Gnade Gottes berufen sind. Die Kirche ruft, zuallererst, jene starke Mahnung des Propheten Joel in Erinnerung: „So spricht der Herr: Kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen. (2,12) Der Ausdruck „von ganzem Herzen“ muss unterstrichen werden, denn er bedeutet aus der Mitte unserer Gedanken und Gefühle, aus dem Wurzelgrund unserer Entscheidungen, Beschlüsse und Handlungen, mit einer Geste totaler und radikaler Freiheit. Aber ist diese Rückkehr zu Gott möglich? Ja, denn es gibt eine Kraft, die nicht in unserem Herzen wohnt, sondern dem Herzen Gottes selber entströmt. Es ist die Kraft seiner Barmherzigkeit. Der Prophet spricht außerdem: „Kehrt um zum Herrn, eurem Gott! Denn er ist gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Güte, und es reut ihn, dass er das Unheil verhängt hat.“ (v.13) Die Rückkehr zum Herrn ist möglich als „Gnade“, weil sie ein Werk Gottes ist und Frucht unseres Glaubens an seine Barmherzigkeit. Aber diese Rückkehr zu Gott wird nur dann zu einer konkreten Wirklichkeit in unserem Leben, wenn die Gnade Gottes in unser Innerstes eindringt, es erschüttert und uns die Kraft gibt die „Herzen zu zerreißen“. Es ist noch einmal der Prophet, der von Gott her diese Worte erklingen lässt: „Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider“ (v.13) In der Tat sind auch heute viele bereit, sich die „Kleider zu zerreißen“ angesichts von Skandalen und Ungerechtigkeiten – die natürlich von anderen begangen worden sind – , aber wenige nur scheinen bereit, am eigenen „Herzen“ zu arbeiten, am eigenen Gewissen und an den eigenen Intentionen, und dabei dem Herrn die Wandlung, Erneuerung und Bekehrung zu überlassen.
Jenes „Kehr um zu mir mit ganzem Herzen“, schließlich ist eine Mahnung, die nicht nur den Einzelnen angeht, sondern die Gemeinschaft. Wir haben in der ersten Lesung gehört: „Auf dem Zion stoßt in das Horn, ordnet ein heiliges Fasten an, ruft einen Gottesdienst aus! Versammelt das Volk, heiligt die Gemeinde! Versammelt die Alten, holt die Kinder zusammen, auch die Säuglinge! Der Bräutigam verlasse seine Kammer und die Braut ihr Gemach. (vv. 15-16) Die gemeinschaftliche Dimension ist ein wesentliches Element des Glaubens und des christlichen Lebens. Christus ist gekommen, „um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln.“ (vgl. 11,52) Das „Wir“ der Kirche ist die Gemeinschaft, zu der uns Jesus versammelt (vgl. Joh 12,32): Der Glaube ist notwendig kirchlich. Es ist wichtig, sich dessen zu besinnen und es in dieser Fastenzeit zu leben: Jeder muss sich bewusst sein, dass der Weg der Buße nicht alleine bewältigt werden kann, sondern gemeinsam mit vielen Brüdern und Schwestern in der Kirche.
Der Prophet spricht schließlich über das Gebet der Priester, die mit Tränen in den Augen sich an Gott wenden und sprechen: „Überlass dein Erbe nicht der Schande, damit die Völker nicht über uns spotten. Warum soll man bei den Völkern sagen: Wo ist denn ihr Gott?“ (v.17) Dieses Gebet lässt uns über die Bedeutung des Glaubenszeugnis und des christlichen Lebenswandels eines jeden von uns und unserer Gemeinden nachdenken, damit das Angesicht der Kirche sichtbar wird und wie dieses Angesicht zuweilen verunstaltet wird. Ich denke besonders an die Sünden gegen die Einheit der Kirche, an die Spaltungen im Leib der Kirche. Die Fastenzeit in einer intensiveren und sichtbareren kirchlichen Gemeinschaft zu leben, und die Individualismen und Rivalitäten zu überwinden, ist ein demütiges und kostbares Zeugnis für jene, die dem Glauben fern stehen oder gleichgültig sind.
„Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung.“ (2 Kor 6,2) Die Worte des Apostels Paulus an die Christen in Korinth hallen auch in uns wider mit einer Dringlichkeit, die ein Wegbleiben oder Untätigkeit nicht zulässt. Der mehrfach wiederholte Begriff „jetzt“ besagt, dass man sich diesen Augenblick nicht entgehen lassen darf; er wird uns als einzigartige und unwiederholbare Gelegenheit angeboten. Und der Blick des Apostels richtet sich auf das Miteinanderteilen, einer Haltung, die nach dem Willen Christi seine ganze Existenz geprägt hat durch die Annahme alles Menschlichen, sogar bis hin zur Annahme der Sünden der Menschen. Der Satz des Heiligen Paulus ist sehr stark: Gott hat ihn „für uns zur Sünde gemacht“. Jesus, der Unschuldige, der Heilige, der, „der keine Sünde kannte“ (2 Kor 5,21), nimmt auf sich das Gewicht der Sünde, indem er mit der Menschheit deren Folgen teilte: den Tod, den Tod am Kreuz. Die Versöhnung, die uns angeboten wird, hat einen sehr hohen Preis gehabt, den des auf Golgota erhöhten Kreuzes, an den der Mensch gewordene Sohn Gottes gehängt worden ist. In dieses Eintauchen Gottes in das menschliche Leid und in den Abgrund des Bösen liegt die Wurzel unserer Rechtfertigung. Das „Zurückkehren zu Gott mit ganzem Herzen“ auf unserem Weg der Fastenzeit geht durch das Kreuz, durch das Nachfolgen Christi auf dem Weg zum Kalvarienberg, durch die Ganzhingabe seiner selbst. Es ist ein Weg, auf dem man jeden Tag lernt, immer mehr aus unseren Egoismus und unserem Verschlossensein herauszutreten, um Gott Platz zu machen, der unser Herz öffnet und wandelt. Und der Heilige Paulus erinnert daran, wie die Verkündigung des Kreuzes in uns wider klingt dank der Predigt des Wortes Gottes, für das der Apostel selbst ein Gesandter ist; eine Mahnung an uns, auf dass dieser Weg der Fastenzeit gekennzeichnet sein möge von einem aufmerksameren und eifrigeren Hören auf das Wort Gottes, dem Licht, das unsere Schritte erleuchtet.
In dem Abschnitt aus dem Evangelium des Matthäus, der zur sogenannten Bergpredigt gehört, bezieht sich Jesus auf drei grundlegenden Praktiken, die das mosaische Gesetz vorsieht: Das Almosengeben, das Gebet und das Fasten; sie sind auch traditionelle Hinweise für unseren Weg in der Fastenzeit, um der Einladung zu folgen „mit ganzem Herzen zu Gott zurückzukehren“. Aber Jesus unterstreicht die Bedeutung der Qualität und der Wahrhaftigkeit der Beziehung zu Gott, die die Authentizität aller religiösen Handlungen bestimmt. Deswegen prangert er die religiöse Verlogenheit an, ein nur äußerliches Verhalten, Handlungsweisen, die Zustimmung und Applaus erheischen. Der wahre Jünger dient nicht sich selber oder dem „Publikum“, sondern seinem Herrn, in der Einfachheit des Großmuts: „Und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“ (Mt 6,4.6.18). Unser Zeugnis wird umso wirksamer sein, je weniger wir unsern Ruhm suchen und wir uns bewusst werden, dass der Lohn des Gerechten Gott selber ist, am Ende des Lebens, im Frieden und Licht der Begegnung mit ihm selbst, von Angesicht zu Angesicht und für immer (vgl. 1 Kor 13.12).
Liebe Brüder und Schwestern, beginnen wir voll Vertrauen und Freude den Weg der Fastenzeit. Möge die Einladung zur Bekehrung und zur „Umkehr zum lebendigen Gott mit ganzem Herzen“ laut in uns widerhallen, indem wir seine Gnade annehmen, die uns zu neuen Menschen macht, mit jener überraschenden Neuheit, die jene Teilhabe am Leben Jesu selber ist. Möge also niemand von uns diesem Appell gegenüber taub bleiben, dem wir in diesem schlichten Ritus begegnen, der Bezeichnung mit Asche, einer Geste, die wir bald vollziehen werden und die so einfach und zugleich beeindruckend ist. Möge uns in dieser Zeit die Jungfrau Maria begleiten, die Mutter der Kirche und Vorbild eines jeden wahren Jüngers des Herrn. Amen.

Weitere Hinweise und Quellen

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